Homöopathie und die Welt

Dieser Blog beleuchtet Schnittstellen der Homöopathie und des ganzheitlichen Heilens mit der außermedizinischen Welt, mit Spiritualität, Wissenschaft und Politik. Die homöopathische Art, über Probleme, Krisen und Lösungen nachzudenken und nachzufragen, wird über Themen der individuellen Gesundheit hinaus erweitert. Die ganzheitliche Sicht auf Zusammenhänge und die besondere Art, genau hinzuhören, die wir uns in zweihundert Jahren Umgang mit Krisen und Leiden erarbeitet haben, läßt sich auch in kollektiven Zusammenhängen sehr fruchtbar anwenden. Dies möchte ich in einer losen Folge von Artikeln anhand aktueller Themen zeigen.
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Jörg Wichmann, November 2017


BLOG

Alternative Medizin im Kontext der globalen Krise

Dieser Artikel entstand in der Folge von Überlegungen Fabian Scheidlers in seinem brillanten Buch „Das Ende der Megamaschine: Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ (Wien 2015, Link). Darin gibt der Autor einen Überblick über die Entstehung unserer Zivilisation und die Logik, mit der diese in die derzeitige globale Krise und Katastrophe geführt hat und immer weiter führt.
Zunächst möchte ich dieses Buch mit dem etwas unglücklich gewählten Titel unbedingt empfehlen. Ich kenne keine bessere Interpretation unserer Zivilisationsgeschichte, die die bekannten historischen Fakten so kundig und originell zusammenstellt, daß daraus ein ganz neues und tieferes Verständnis des Weges entsteht, auf dem wir an den heutigen Punkt gelangt sind. Und daraus ergeben sich Möglichkeiten, wie wir diesen Weg in den Abgrund wieder verlassen könn(t)en – wenn wir wollen.

Als kleinen Beitrag zu diesen Gedanken – und weil dieser Aspekt in Scheidlers Buch kaum betrachtet wird – möchte ich hier die Rolle aufzeigen, die die moderne Medizin im Kontext der globalen Krise spielt sowie diejenige, die eine alternative Medizin spielen kann.

Wider die „vierte Tyrannei“ – Alternativen zum erzwungenen linearen Denken
Als Einstieg in sein Geschichtsverständnis arbeitet Scheidler Faktoren heraus, die konstituierend für die politisch-wirtschaftlich-militärische Macht sind, die unser aller Leben heute bestimmt, viel mehr als uns häufig bewußt ist. Die vier Hauptfaktoren bezeichnet er als „die vier Tyranneien“. Die erste ist die unmittelbare physische Gewalt im Sinne der Ausübung von Herrschaft mittels Waffen, Militär usw.; die zweite ist die strukturelle Gewalt, die Ausübung von Herrschaft durch mehr oder weniger offensichtliche Regelsysteme, welche Menschen sehr unterschiedlich bevorzugen oder benachteiligen; die dritte ist die ideologische Macht, mittels welcher die direkten Formen der Gewalt legitimiert werden und die in Gestalt von religiösen, mythologischen oder politischen Überbauten/Glaubenssystemen/Weltanschauungen daherkommen; und die vierte seiner Tyranneien ist das lineare Denken, das den Kosmos und alles Lebendige in Begriffe der Kausalität zwingt, die eigentlich nur für die unbelebte äußere Welt tauglich sind und die letztlich auch unsere Selbstwahrnehmung maschinenförmig machen und uns auf Rädchen reduzieren, die in der großen Maschine zu funktionieren haben. Soweit Scheidler.

Allerdings hat das lineare Denken ein ganz wichtiges Argument für sich: Es war ein entscheidendes, nahezu das entscheidende Instrument in der Aufklärung, jener geistigen Aufbruchphase, die uns vom Diktat der religiös-autoritären Ideologien befreit hat. Was auch immer geschieht, wir müssen wachsam bleiben, daß wir nie wieder hinter diese Zäsur zurückfallen. Angesichts der Tatsache, daß autoritäre und reaktionäre Bestrebungen immer wieder auf vor-aufklärerische Narrative zurückgreifen (nehmen wir als Beispiele nur die Anti-Darwinisten in den USA, die die biblische Abstammungslehre im Biologie-Unterricht durchsetzen wollen, die Kreuzzugs-Rhetorik gewisser US-Präsidenten, oder das rückwärts gewandte Religionsverständnis der Islamisten), angesichts dieser Tatsachen ist es schwer, sich für eine Infragestellung des linearen Denkens einzusetzen. Auf keinen Fall wollen wir dabei den Applaus von der falschen Seite. Aber schließlich muß die Aufklärung [auf Englisch so schön: Enlightenment] auch sich selbst durchleuchten und aufklären, muß die eigenen Fallstricke lösen und sich aus den Einseitigkeiten befreien, die einmal historische Notwendigkeit gewesen sein mögen, die sich aber überlebt haben und von denen aus wir jetzt weitergehen müssen. (Ähnlich erleben wir es auch bei unseren Patienten, daß ein Verhaltensmuster, das sich früh im Leben als eine hilfreiche Strategie gebildet hat, um bestimmte schwierige oder bedrohliche Umstände zu überleben, im Laufe der Jahre zu einem Hindernis wird und einer weiteren Entwicklung im Weg steht.) Dennoch ist es schwer solche Muster loszulassen, weil dabei das alte Trauma wieder bedrohlich auftaucht. Wir müssen durchschauen, daß die Bedrohung nur in unserer Vorstellung existiert, während die Welt sich geändert hat. Diejenigen, die seit den 80er Jahren von einer „Wiederverzauberung der Welt“ sprechen, wollen keineswegs hinter die Aufklärung zurück in eine Zeit, in welcher Feudalismus und Inquisition das Leben bestimmten. Vielmehr geht es darum, die Lebendigkeit der Welt zu bewahren und unser persönliches und soziales Leben vor einer um sich greifenden Maschinenförmigkeit zu retten.

Eine ganz entscheidende Stelle unserer Selbstwahrnehmung ist unsere Gesundheit, unser Körper. Wie sagt das Sprichwort so schön: Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Hier sammeln und entscheiden sich unsere Ängste und Hoffnungen und Möglichkeiten. Hier zeigt sich, woran wir wirklich glauben, worauf in dieser Welt wir im Zweifelsfall wirklich vertrauen. Und an dieser entscheidenden Stelle kommt ins Spiel, für welche Art von Medizin wir uns entscheiden, oder zunächst welche Art von Medizin uns überhaupt angeboten wird und uns zugänglich ist. Zugänglich im materiellen Sinne als vorhanden und bezahlbar, aber zugänglich auch im geistigen Sinne als ein überzeugendes und Vertrauen erweckendes Konzept mit einer gewissen sozialen Akzeptanz. Die Rede von den Halbgöttern in Weiß, denen auf der anderen Seite die Quacksalber und Scharlatane gegenüberstehen, zeigt deutlich, in welche Kiste der Vorstellungskraft hier gegriffen wird. Und da hier seitens der etablierten technisch-chemischen Medizin multimilliarden-schwere Einkünfte und ein großartiges, aber immer mehr angekratztes Image zu verteidigen sind, wird hier mit sehr harten Bandagen gekämpft.
Die moderne Medizin ist ein wesentlicher Garant dafür, daß wir unseren Körper als eine Art Mechanismus sehen, der mit den richtigen chemischen, genetischen oder technischen Eingriffen nach unserem Willen beherrschbar ist. Im „Krieg“ gegen den Krebs wird eine militärische Metaphorik bedient; und der Tod gilt als der Feind der Medizin, nicht als notwendiger Teil der Lebensabläufe. Am Beispiel unseres Körpers üben wir eine Denkweise der totalen Naturbeherrschung ein, und auf der einen wie auf der anderen Ebene spielen die Technik und der Einsatz großer und teurer Ressourcen eine entscheidende Rolle. In beiden Bereichen sind die Verursacher, die Bevorzugten und die Benachteiligten auf diesem Planeten die gleichen.

Die Mehrheit von uns ganzheitlich Heilenden versteht sich selbst als „unpolitisch“ und ist nur daran interessiert, die eigene medizinische Arbeit möglichst gut und ungestört zum Wohle unserer Patienten verrichten zu können. Mehrheitlich sehen wir nicht, daß wir eine Schlüsselrolle in einem viel größeren ideologischen Ringen spielen, daß um die Deutungsmacht darüber geht, welche Art von Denken gesellschaftlich für zulässig gehalten wird und unser Leben bestimmt.
Die ganzheitlichen Heilmethoden werden als Partisanen im Kampf gegen die „vierte Tyrannei“ wahrgenommen. Wir zeigen Alternativen auf, die nicht nur „im Kopf“ existieren und sich leicht als harmlose Spinnerei abtun lassen, sondern die dann funktionieren, wenn es darauf ankommt, wenn ich krank bin und Hilfe brauche. Alternativen, die sich nicht linear und physikalisch erklären lassen, die im Rahmen des etablierten Weltbildes komplett unsinnig wirken. (Insofern ist es unredlich von „komplementären“ Heilmethoden zu reden, vielmehr handelt es sich um Alternativen im eigentlichen Sinn des Wortes: um Methoden, die eine andere Herkunft haben und die auch ganz woanders hinführen. Wenn ich nach Hamburg will, ist es nicht komplementär, mich in einen Zug nach München zu setzen. Ganzheitliche Gesundheit ist ein anderes Ziel, als meine Funktion im industriellen Getriebe wieder herzustellen.)
Die Homöopathie sticht hier besonders hervor, da sie ganz offen den Anspruch erhebt, mit rein geistigen Mustern zu heilen, und in deren Globuli chemisch gesehen nur Zucker ist. Deshalb bekommt sie in der öffentlichen Debatte immer wieder die Breitseite ab. Aber letztlich gilt all das Gesagte auch für alle anderen holistischen Heilweisen – da sitzen wir alle in einem Boot. Und wir müssen begreifen, daß in diesem Boot nicht nur wir ganzheitlich Heilenden und unsere PatientInnen sitzen sondern auch all jene, die auf ganz anderen Feldern des gesellschaftlichen Lebens um eine humanere, lebenswertere Welt und Gemeinschaft ringen. Vieles wird sich daran entscheiden, wie bald wir begreifen, daß die „politisch Linken“, die „Ökos“, die „Eine-Welt-Engagierten“, die „Friedensbewegten“, die „sozial Engagierten“ und die „Spirituellen“ in einem Boot sitzen und besser an einem Strang ziehen sollten.
Für manche, die aus der klassischen Linken kommen, heißt das zu verstehen, daß die emanzipativen Kräfte heute längst nicht mehr diejenigen sind, die den blanken Materialismus und das positivistische Denken hoch halten. Diejenigen, die wir für ganzheitliche Weltbilder – und auch Heilmethoden – streiten, haben diesen Weg oftmals als Konsequenz aus Einsichten gewählt, die wir in den politischen Auseinandersetzungen der 70er und 80er Jahre gewonnen haben: Daß eine Veränderung der gesellschaftlichen Umstände begleitet werden muß durch eine Veränderung unserer eigenen Sicht der Welt und unserer Verhaltensmuster. Frieden in der Welt kann ich erst schaffen, wenn ich in mir selbst friedlich geworden bin.
Andererseits bedeutet es für diejenigen, die mit dem ganzheitlichen Heilen und Begleiten ihrer Patienten beschäftigt sind, aus der bürgerlich-individualistischen Nische herauszutreten und ihre Arbeit auch als ein politisches Handeln zu begreifen. Wir werden nicht deshalb angegriffen und an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, weil wir zu wenig vermitteln, wie toll unsere Heilmethoden wirken, oder weil wir zu wenige Studien für ihre Wirksamkeit beibringen, sondern weil wir für ein emanzipatives Weltbild stehen, das an den Grundfesten des linearen, des maschinenförmigen Denkens rüttelt. Ob wir es wissen oder nicht, wir sind Protagonisten einer breiten gesellschaftlichen Bewegung, die ihre eigenen Ausmaße noch nicht ganz wahrnimmt. Bei uns findet – um es noch einmal an Scheidlers Begriffe anzulehnen – das wichtigste Aufbegehren gegen die „vierte Tyrannei“ statt.

Auf jeden Fall braucht eine andere, humanere, nachhaltige und überlebensfähige Gesellschaft auch eine andere Medizin. Eine Medizin, in der nicht der Profit sondern die Menschen im Fokus stehen, die nicht gewaltige Ressourcen für wenige verschleudert und die große Masse der Leidenden im Regen stehen läßt, und die den Menschen als ein lebendiges, ganzheitliches und nicht berechenbares Wesen sieht. – Wir können darauf warten, bis eine solche Art der Medizin von irgendeiner Regierung in einer besseren Zukunft unterstützt wird, oder wir können uns schon heute dafür einsetzen und damit fortfahren, diese Medizin anzuwenden und weiterzuentwickeln. Und wir sollten selbst einsehen und andere darauf aufmerksam machen, daß diese Art der Medizin nicht für sich steht und daß es ihr nicht nur um die Gesundheit einzelner sondern um das Ganze geht. Individuelles Wohlergehen kann nie mehr sein als eine kurzfristige Illusion. Wir sitzen alle in einem Boot.


Literatur:

Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine: Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Wien 2015, Link
ders.: Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen. Wien 2017, Link
ders. und David Goeßmann: Kontext-tv
Wagenhofer, Erwin: Filme „Let’s Make Money“, „We Feed the World“, „Alphabet“

Berman, Morris: Wiederverzauberung der Welt. Am Ende des Newton‘schen Zeitalters, München 1983
Duerr, Hans-Peter: Traumzeit – Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt 1978
ders. (Hrsg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale. Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, Frankfurt 1981, 2 Bände.
Illich, Ivan: Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis, Hamburg 1975
Jütte, Robert: Geschichte der alternativen Medizin – Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, München 1996
Mumford, Lewis: Technics and Human Development. The Myth of the Machine, 1967/70
Pietschmann, Herbert: Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters, Stuttgart 1995
Roszak, Theodore: Ökopsychologie – Der entwurzelte Mensch und der Ruf der Erde, Stuttgart 1994
Simos, Miriam: Dreaming the Dark. Magic, Sex and Politics, Boston 1982. (Being the most important book to understand poiltics and the power of community, that I have come across.)


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